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FaZ
 

Ausgabe: 26.05.2003    
Das Narrenschiff droht zu kentern
Die spinnen, die Stadtplaner: Die klassizistische Irrenanstalt Halle-Nietleben soll abgerissen werden 

Von Arnold Bartetzky
FaZ vom 26.05.2003
Abrißreif?
Ein klassizistisches Schloß, vor allem aber eine wohlgebaute Stadt in der Stadt war einst Halles Irrenanstalt.

Foto: Bartetzky
Waren das Zeiten, als man in den Nachwendejahren miterleben durfte, wie die historischen Städte Ostdeutschlands auflebten! Gewiß, es gab auch Fehlentwicklungen und verpaßte Chancen. Doch es überwog das freudige Staunen über die Juwelen, die, dank der Schwäche der DDR-Wirtschaft konserviert, nach und nach unter jahrzehntealten Dreckschichten zum Vorschein ka­men. Heute dagegen ist in Ostdeutschland von Depression bedroht, wer an Baudenkmälern hängt: Seitdem der Sanierungsboom abgeebbt ist, überbieten dieselben Kommunen, die damals in behutsamer Stadtreparatur wetteiferten, einander im Raubbau an ihrem architektonischen Erbe. Unter dem Eindruck von Wohnungsleerstand und rapidem Verfall der unsanierten Altbauten wurde die Stadtschrumpfung zum neuen Leitbild erklärt. Ganze Häuserzeilen aus der Gründerzeit werden nun, ohne mit der Wimper zu zucken, planiert, immer unterwürfiger buhlen die Städte um die rar gewordenen Investoren. Kaum ein Baudenkmal ist mittlerweile vor Abriß sicher, wenn es den Plänen eines Bauträgers im Wege steht.

Ein krasses Beispiel für diese kommunale Ohnmacht gegenüber skrupellosen Investoren bietet in den letzten Monaten Halle. Am Marktplatz, trotz einiger Kriegsverluste und späterer Bausünden eines der hinreißendsten historischen Ensembles in Deutschland, wurde unlängst ein Gründerzeithaus bis auf die Fassade niedergelegt, um für den Erweiterungsbau eines Warenhauses Platz zu machen. Der Investor, die Frankonia GmbH im Verbund mit Kaufhof, der die Platzfront bereits mit einem erbärmlichen Erstbau verstümmelt hatte, wollte auch das angrenzende spätklassizistische Eckgebäude mit renaissance- und barockzeitlichem Kern einstampfen. Die bedrängte Stadt hätte sich dem Ansinnen vermutlich nicht dauerhaft widersetzt, nachdem sie bereits die Beseitigung des rückwärtigen Anbaus samt Treppenhaus zugelassen hatte. Daß das Kleinod, wenn auch als Torso, noch steht, ist wohl dem skandalösen Abriß auf dem Nachbargrundstück zu verdanken. Bei der Freilegung der seitlichen Flanke traten nämlich sensationellerweise romanische Fragmente mit Türgewänden und Portalen zutage, womit dann - zumindest vorläufig - weiteren Abrißgelüsten Einhalt geboten werden konnte.

Wenn nicht wieder ein Wunder geschieht, sind aber die Tage für ein Hallenser Denkmalensemble von noch viel größerem kunst- und kulturgeschichtlichem Wert gezählt: die einige Kilometer nördlich des Zentrums gelegene ehemalige Provinzial-Irrenanstalt Nietleben. Die ausgedehnte Anlage, geschmeidig in einen romantisch verwilderten Park auf einer sanften Erhebung über der Saale eingebettet, gehört zu den frühesten psychiatrischen Heilanstalten Deutschlands. Ihr Kernbezirk, ein rechteckig um einen Innenhof angeordneter, fußballfeldgroßer Komplex aus Einzelgebäuden mit verbindenden Arkaden und Kolonnaden, entstand in den vierziger und fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Die Entwürfe stammen von den Architekten Gustav Spott und Fr. W. E. Steudner, das planerische Konzept hatte der angesehene Psychiater und erste Anstaltsdirektor Heinrich Damerow erarbeitet.

Die zwei- bis dreigeschossigen Putzbauten atmen in ihrer strengen Eleganz trotz des maroden Zustands noch die edle Einfalt und stille Größe des Spätklassizismus. Die palastartige Anmutung des symmetrisch organisierten Gesamtensembles aber läßt an barocke Schloßanlagen oder, mehr noch, an Idealstadtentwürfe der Renaissance denken. Tatsächlich war die Anstalt als eine Art Idealstadt, ein wohlgeordneter Laborapparat des medizinischen Fortschritts, konzipiert worden. Aus dem Geist einer neuen Humanität geboren, sollte sie den Geisteskranken, die man nicht mehr als Verbrecher, sondern als Patienten behandelte, ein menschenwürdiges Domizil und optimale Therapiebedingungen bieten. Noch wenige Jahrzehnte zuvor hatte man die Irren von Halle zusammen mit Kriminellen in einem Zuchthaus eingesperrt. Nach Verlegung der Straftäter im Jahr 1816 wurde das einstige Gefängnis zum „Königlichen Irreninstitut", in dem die Insassen wie Sardinen in der Büchse zusammengepfercht waren. Heinrich Damerow geißelte diese Zustände und erwirkte schließlich bei der preußischen Regierung die Zustimmung zum Bau einer Provinzial-Irrenanstalt.

Die Humanisierung der Irrenfürsorge änderte allerdings nichts an der gesellschaftlichen Ausgrenzung der seelischen Abweichler. Im Gegenteil: In demselben Maße, in dem die Erkenntnis wuchs, daß es oftmals nur ein kleiner Schritt von der gesellschaftlichen zur pathologischen Entfremdung ist, stiegen die Berührungsängste. Die abgeschiedene Lage der Anstalt sorgte jedenfalls dafür, daß die Gesellschaft der Normalen unten in der Stadt vom Treiben der Entrückten auf dem Hügel unbehelligt blieb.

Für manchen Insassen mag dieser Zauberberg eine Insel der Seligen gewesen sein, andere dürften die Zwangsidylle als GULag empfunden haben. Heute jedenfalls wirkt die Anlage wie ein erlesener Kurort oder eine mustergültige Residenz für betreutes Wohnen. Die späteren Bauten, in lockerer Anordnung in die Parklandschaft rund um den Kernbezirk eingestreut, steigern den einzigartigen Reiz des Ensembles. Bereits 1864 wurde die anmutige, aus Backstein errichtete Anstaltskirche geweiht. In der Raumauffassung noch spätklassizistisch, im Detail den Rundbogenstil aufgreifend, erscheint sie als eine kleine Schwester von Stülers Matthäikirche in Berlin. Seit den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts wurden Erweiterungen der Anstalt notwendig, denn der Modernisierungsschub der Gründerjahre zeitigte Scharen psychisch Kranker, die in Nietleben unterzubringen waren. Zunächst entstanden villenartige Patientenhäuser, später kamen Aufnahmestationen, ein Verwahrungshaus für unbotmäßige Kranke, eine neue Villa für den Direktor und mehrere Häuser für das Anstaltspersonal hinzu.

Mit ihrer achtzigjährigen Baugeschichte ist die Anstalt eine wahre Enzyklopädie der Architekturstile des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts - vom Klassizismus über Varianten des gründerzeitlichen Historismus bis hin zum englischen Landhausstil und zum Art deco der zwanziger Jahre. In Nietleben wurde jedoch nicht nur Architekturgeschichte, sondern vor allem Medizingeschichte geschrieben - nachzulesen in einem Aufsatz von Heiko Worlitschek und Josef N. Neumann (Hallesche Blätter, im Druck). Anstaltsgründer Damerow gehörte zu den bedeutendsten Psychiatern der Zeit. Sein Nachfolger Moritz Koeppe verhalf in Deutschland der damals neuen „Therapie ohne mechanischen Zwang" zum Durchbruch. In den zwanziger Jahren wurden in der Anstalt über tausend Patienten betreut. Das Ende kam mit den Nazis, die für Geisteskranke alles andere als eine Therapie ohne mechanischen Zwang im Sinne hatten. Bereits 1935 wurde die Heilanstalt liquidiert, die meisten Patienten fanden später in den Vernichtungsanstalten des NS-Staats den Tod. Die Gebäude wurden einer in der Nähe errichteten, gigantischen Kaserne der Wehrmacht einverleibt.

Nach Kriegsende nahm die Rote Armee das Areal in Besitz und verblieb dort bis Anfang der neunziger Jahre. Sie hinterließ die Anlage in einem verwahrlosten, aber baulich erstaunlich intakten Zustand. Selbst für die Kirche hatten die Rotarmisten eine Verwendung gefunden, indem sie sie als Turnhalle mißbrauchten. Noch heute zieren naive Bildtafeln mit Sporttreibenden den angrenzenden Festsaal. Hie und da erinnern auf dem Gelände auch Sowjetsterne und Graffiti in kyrillischer Schrift an die früheren Nutzer.

Die mutwillige Zerstörung der Irrenanstalt begann erst nach dem Abzug der Soldaten, veranlaßt von bundesdeutschen Behörden: Der Mittelbau im Hof des klassizistischen Kernkomplexes und einige Seitentrakte wurden abgerissen. Der Leerstand beschleunigte den Verfall der übrigen Gebäude. Nicht ausreichend gesichert, wurden sie dem Vandalismus preisgegeben. So bietet sich die Irrenanstalt heute als Geisterstadt dar. Trotz der Teilabrisse sind aber die architektonische Konzeption und der ursprüngliche funktionale Zusammenhang noch gut zu erkennen. Mit etwas gutem Willen ließen sich die Bauten retten - Ostdeutschlands Stadtplaner wissen dies aus den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts, in dem viele Baudenkmäler in weitaus schlechterem Zustand gerettet wurden.

Doch dieser gute Wille ist der Stadt Halle abhanden gekommen. Unfaßbar, aber wahr: Die Ausschüsse für Planung und Wirtschaft haben sich kürzlich nach langem Ringen mehrheitlich für den Abriß des gesamten klassizistischen Kernkomplexes ausgesprochen. An seiner Stelle soll ein neues „Technologie- und Gründerzentrum" entstehen. Dessen Direktor hat sage und schreibe ein halbes Dutzend Ausweichflächen abgelehnt, zum Teil mit nebulösen Argumenten, die nicht nur die Denkmalpfleger skeptisch stimmten. Trotzdem will die Stadtverwaltung nun seinem Drängen nachgeben, aus Furcht, für das Gelände keinen anderen Investor zu finden.

Die naheliegende Idee, das Idyll in traumhafter Lage als idealen Standort für das so begehrte innenstadtnahe Wohnen im Grünen zu vermarkten, hat kaum Chancen auf Realisierung. Denn das Gelände ist Teil eines mit Fördergeldern errichteten „Wissenschafts- und Innovationsparks". Im Falle einer Änderung des Nutzungskonzepts, so argumentiert die Stadt, müßten die in Anspruch genommenen, zweckgebundenen Mittel zurückgezahlt werden.

Gegen die Abrißpläne hatte sich eine Front aus Kommunalpolitikern, Bürgerinitiativen, Journalisten, Architekten, Stadtplanern und Denkmalpflegern formiert. Selbst Halles ehemaliger Baudezernent Friedrich Busmann, sonst nicht gerade zimperlich im Umgang mit Baudenkmälern, spricht sich vehement gegen den Kahlschlag aus. Die Abrißgegner verweisen nicht nur auf den singulären städtebaulichen, architektur- und medizinhistorischen Rang des Ensembles. Mit den Sachzwängen der Kommunalpolitik vertraut, haben sie auch mehrere alternative Nutzungskonzepte im Rahmen des Wissenschaftsparks entwickelt, etwa als Zweigstelle der Universitätsbibliothek, als Studentenwohnheim oder auch Domizil für medizinische Einrichtungen. Doch sie scheinen kein Gehör zu finden: Die Spitze der Kulturstadt Halle scheint fest entschlossen, im Namen kurzsichtiger Interessen ihren langfristig gewichtigsten Standortvorteil zu verspielen: ein architektonisch unverwechselbares Stadtbild, das in seinem Facettenreichtum deutschlandweit seinesgleichen sucht. Denn es steht außer. Zweifel, daß der Abriß einen Dammbruch bedeuten würde. Die Planierung der verbleibenden, aus ihrem Zusammenhang gerissenen Anstaltsbauten samt der Kirche und der Direktorenvilla wäre nur eine Frage der Zeit. Und wie könnte man Investoren noch zum aufwendigen Erhalt der schönen Bürgerhäuser in der Altstadt bewegen, nachdem man das grandiose Irrenschloß von Nietleben geopfert hat?

Die letzte Hoffnung ruht nun auf dem Stadtrat, der an diesem Mittwoch entscheiden wird. Vielleicht wird sich die Mehrheit in letzter Sekunde darauf besinnen, welcher Schatz durch den Abriß vergeudet und welcher Imageschaden - welche Schande - der Stadt damit zugefügt würde.
 
   

www.scheer-halle.de